Ich habe unsere Alten besucht und sie haben mir ihre Geschichte erzählt.
Helmut Oechsler ist gebürtiger Schönwalder. Der 91-jährige ist als einziger Junge unter sieben Schwestern aufgewachsen. Zur Schule ist er in Waldsassen gegangen, ehe er in Schönwald seine Lehre zum kaufmännischen Angestellten bei der Firma Russ begonnen hat. Im Krieg wurde er zur Marine eingezogen. „Wir haben den Schiffen, die von Deutschland nach Norwegen fuhren, Geleitsicherung vor englischen Fliegern gegeben“, erzählt er von seiner Aufgabe beim Militär. Unter Tränen erinnert er sich an den ersten schweren Schicksalsschlag im Jahr 1944: Als seine Mutter stirbt, kann sich Helmut Oechsler nicht mehr rechtzeitig von ihr verabschieden. Sie liegt schon unter der Erde, als er nach Hause kommt.
Nach dem Krieg arbeitet Oechsler zuerst in der Gärtnerei des Vaters, ehe er in einem Selber Steuerbüro anfangen kann. Es folgen 24 Jahre als Buchhalter in einer Arzberger Strickwarenfabrik. Schließlich kommt er bei der Stadt Arzberg unter, wo er bis zu seiner Rente als Buchhalter angestellt ist. 30 Jahre lang war Helmut Oechsler mit Margarete verheiratet. Zwei Kinder sind aus der Ehe entstanden. Und Helmut Oechsler muss den nächsten Schicksalsschlag erleiden: Mit nur 43 Jahren stirbt seine Tochter an Kehlkopfkrebs. Dann, vor vier Jahren, stirbt Margarete. „Wir haben uns doch immer so gut verstanden“, erzählt er. Und: „Alleine ist es nicht schön.“
Nach einem schweren Sturz mit dem Fahrrad kommt Helmut Oechsler vor etwa zwei Jahren ins Heim. Hier kommt ihn sein Sohn wöchentlich besuchen. „Hier bin ich gut aufgehoben, jetzt geht´s mir gut.“
Ilse Gebhardt musste im März 1945 aus dem niederschlesischen Leutmannsdorf im Kreis Schweidnitz flüchten. Mit dabei waren ihre drei Geschwister. Ihre kleinste Schwester war bei der Flucht noch ein Baby. „Bei Nacht und Nebel mussten wir raus und wurden mit dem Zug nach Eger transportiert“, erinnert sich die 86-jährige. Im Keller des Bahnhofs haben sie sich versteckt, als es Bomben vom Himmel regnete. Weiter ging es nach Wunsiedel. Hier kamen sie in der „Kaffemühle“ unter, der heutigen Wirtschaftsschule, die man für die Flüchtlinge notdürftig mit Stroh ausgelegt hatte, um den Menschen ein Nachtlager zu bieten. Die Mutter machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Wohnung. Bekommen haben sie ein Zimmer. Ilse Gebhardt und ihre Familie mussten auf Holzbänken schlafen. „Frühmorgens mussten wir in den Wald, um Feuerholz zu beschaffen“, erzählt sie. Arbeit gab es zunächst keine. Die ersten paar Mark verdiente sich das Mädchen mit Waldarbeiten. Später hat sie mal als Kindermädchen, mal im Altenheim auf der Luisenburg gearbeitet, das zu dieser Zeit abgebrannt ist. 1946 hat sie ihren Mann Adolf kennengelernt, der zu diesem Zeitpunkt gerade aus der Gefangenschaft zurück gekommen war. Beide waren später bei der Justiz beschäftigt- er als Beamter, sie als Reinigungskraft. „Das war eine schöne Zeit“, sagt Ilse Gebhardt. Vor sieben Jahren ist Adolf Gebhardt gestorben. Gesundheitlich war es auch um Ilse Gebhardt nicht mehr so gut bestellt. Die Wohnung wurde zu groß und die Suche nach einer neuen Bleibe endete im „Siebenstern“. Den Schritt ins Heim hat sie nie bereut. „Wir werden hier sehr gut betreut.“
90 Jahre ist Babette Sechser nun alt. In ihrem langen Leben hat sie mal als Näherin gearbeitet, mal als Porzellinerin. Als Produktionshelferin hat sie im ganzen Landkreis ihre Spuren hinterlassen. Vor allem finden sich diese aber auf den Tanzböden der Region. Babette Sechser war einst eine begeisterte Tänzerin. „Ich war gerade 20 als der Krieg zu Ende war und die Tanzwut in Deutschland ausbrach“, erzählt sie von dieser wilden Zeit. „Am Wochenende war ja stets ein anderer Tanz in der Gegend. So zog die junge Neusorgerin von Tanzfläche zu Tanzfläche, um sich im Rhythmus der Musik zu bewegen und das noch junge Leben zu genießen. "Von Tango bis Boogie Woogie, von Walzer bis Polka- wir haben einfach alles getanzt", erinnert sie sich. Später hat es ihr dann das Wandern angetan. „Es gibt wohl kaum einen Ort im Fichtelgebirge und im Steinwald, wo ich noch nicht hingewandert bin“, ist Babette Sechser überzeugt. Einen Mann hat sie dazu nie gebraucht. Sie war nie verheiratet und hat auch keine Kinder zur Welt gebracht. „Ich möchert a heit niat amol oin“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Ein zufriedener Mensch sei sie, der niemandem neidisch sei. „Mein Leben war schön“, so die Seniorin. Lediglich das Bombardement auf Neusorg ist ihr negativ in Erinnerung. „Da hatten wir richtig Angst.“ Das Foto von 1970 zeigt Babette Sechser mit Marion, der Tochter ihrer Nichte, am Weihnachtsbaum.
Maria Schug ist 84 Jahre alt. Als eine von fünf Schwestern wuchs sie in Waldershof auf. Die Eltern hatten einen landwirtschaftlichen Betrieb, doch
die harte Arbeit auf dem Hof störte sie nie. „Wir hatten eine wunderschöne Kindheit und Jugend“, erzählt Frau Schug. Beim Onkel hat sie dann begonnen, eine Lehre zur Zahnarzthelferin zu
machen.
Durch ihren späteren Mann, der in Nürnberg als Wirtschaftsprüfer tätig war, hat es auch Maria Schug in die Frankenmetropole verschlagen. 42 Jahre lang lebte sie dort, ehe im September 2013 das Schicksal zuschlug und ihr den Ehemann nahm. „Acht Jahre lang waren wir zur Dialyse gefahren, irgendwann hat der Körper
einfach nicht mehr mitgemacht“, schildert sie den Tod ihres Mannes. „Das war ein harter Schlag für mich.“
Weil sie nicht mehr so gut sehen kann- der grüne Star macht sich bemerkbar- ist sie im März 2014 im Altenheim eingezogen. Hier habe sie tolle Freunde gefunden, sagt sie. „Wir gehen viel spazieren
und hier im Heim ist immer volles Programm.“ In ihrem Zimmer hängt ein großes Ölbild, das den Vater zeigt. Ein Künstler hat es einst gemalt. Frau Schug sitzt oft davor und denkt an die
unbeschwerte Kindheit in Waldershof zurück.
Betty Schörner liebt Blumen. Auf ihrem Tischchen in ihrem Zimmer im Seniorenheim steht ein rosafarbenes Alpenveilchen. Von einer Freundin hat sie
das bekommen, sagt sie. Nach einem Oberschenkelhalsbruch wohnt sie hier.
Frau Schörner hätte, wenn es nach dem Willen des Vaters gegangen wäre, eigentlich Bäuerin werden sollen. Doch die heute 93-jährige hatte andere Pläne und so kehrte
sie dem Hof in Breitenbrunn den Rücken. Zusammen mit ihrem Mann Heinrich, den sie 1943 geheiratet hatte und der 1945 schwer verwundet aus dem Krieg heimkehrte, hat
sie sich stattdessen mit einem Frisörbedarfsgroßhandel selbständig gemacht. Das Unternehmen wuchs den beiden Kaufleuten jedoch über den Kopf. So wurde aus den Selbstständigen eine Hausfrau und
ein Kaufmann. 1996 ist Heinrich gestorben. Durch den Stress im Beruf habe das Herz nicht mehr mitgemacht, sagt Frau Schörner. „Das war kein leichter Abschied“, erzählt sie mit feuchten Augen.
„Ich habe ihm die Hand gehalten“, erinnert sie sich an diesen schweren Moment. Sie blickt an die Wand, wo ein Foto von der Goldenen Hochzeit hängt und hält kurz inne. Seit 15 Jahren ist sie nun
schon im Heim und spielt dort am liebsten Rommee mit einer anderen Bewohnerin.
Auf dem schönen Schwarzweißfoto ist Ute Zacharias gerade 20 Jahre jung. Noch immer kann man die Schönheit der heute 81- jährigen erahnen. Die Falten in ihrem Gesicht zeigen deutlich, dass sie gerne lacht. Nie hat die gelernte Chemotechnikerin aus Rosenheim ihren Sinn für Humor verloren. „Die Leute, die sagten, Chemie könnten sie nicht verstehen, habe ich nie verstanden“, erzählt sie belustigt. Ihr Vater sei Soldat gewesen, sagt sie. „Zum Glück kam er aber nicht in russische, sondern in amerikanische Gefangenschaft. Trotz allem Elend, das man in früheren Zeiten erleben musste, haben wir das Lachen nie verlernt.“ Ihren Beruf hat sie irgendwann der Familie zuliebe aufgegeben, Drei Kinder und Ehemann Hans Ernst ließen eben nicht viel Zeit für Karriere. „Leider hat sich keines meiner Kinder so richtig für die Chemie begeistern können“, erzählt Ute Zacharias. Die Entscheidung, zuhause zu bleiben und sich um die Familie zu kümmern, habe sie jedoch nie bereut.
„Wenn ich auf mein Leben zurück blicke, habe ich alles richtig gemacht“, ist Ute Zacharias fest überzeugt. „Das klingt vielleicht im ersten Augenblick hochmütig, doch ich kann einfach nichts bedauern. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Wenn man mit fast 100 Jahren noch so fit ist wie Ilse Simchen, dann darf man ehrlich dankbar sein. Bis vor vier Jahren ist die 99- jährige noch Auto gefahren. Den PKW hat sie mittlerweile gegen einen Rollator getauscht, was sie aber nicht daran hindert, jeden Tag mindestens eine Stunde lang unterwegs zu sein, sei es zum Einkaufen, zum Spazierengehen oder um Freunde im Altenheim zu besuchen. Frau Simchen wohnt barrierefrei im Herzen von Selb. Ab und an kommt eine Freundin vorbei und sieht nach dem rechten. „Das Hirn stimmt noch“, sagt sie selbst über ihren geistigen Zustand. Den Humor hat sie fest für sich gepachtet. „Ich hatte ein erfülltes Leben. Wenn ich sterbe, dann hoffe ich nur, dass ich schnell abdampfe“, scherzt sie.
1945 hat man Ilse Simchen aus Nordböhmen ausgewiesen. „Die tschechischen Soldaten trieben uns mit aufgesetzten Bajonetten vor sich her“, erinnert sie sich. Ihre beiden Brüder und ihr Bräutigam waren im Krieg getötet worden. Mit ihren Eltern floh sie nach Leipzig. „Als Näherin für Regenbekleidung habe ich dort gearbeitet“, erzählt sie. In Selb kam sie dann bei der Firma REG unter. Für einen Mann war in ihrem Leben kein Platz, sie hat mit ihrer Mutter und ihrer Oma zusammen gelebt. Auch nach deren Tod lebte sie allein. Nie hat ihr etwas gefehlt. „Ich bin ein positiver Mensch und habe immer gemacht was mir gefällt“, erklärt sie ihr Glück. Ein Erfolgsrezept für ihr hohes Alter verrät sie gerne: „Man muss mit dem Schlechten im Leben fertigwerden und das Gute muss man genießen.“
„Es war bitterkalt und das Land war eingeschneit.“ Elfriede Günther erzählt von ihrer Flucht aus Großwoitzdorf in Schlesien. Es ist der 18. Januar 1945. Über das Riesengebirge ging es Richtung Deutschland. Die schweren Pferdewägen mussten mit Baumstämmen gebremst werden, um nicht unkontrolliert die steilen Hänge hinunter zu stürzen. Die Flucht ist geprägt von körperlichen und seelischen Strapazen. Auf einer Alm im Allgäu ist sie dann schließlich untergekommen. In Hindelang hat sie ihre Mutter wiedergefunden. 1946 ist sie nach Bad Berneck gekommen, wo sie bis vor eineinhalb Jahren gelebt hat, ehe ihre Schwester ihr den Platz im Paul- Gerhard- Haus besorgt hat. Auf dem alten Foto, das normalerweise an der Wand in ihrem Zimmer hängt, ist sie als junge Frau in Uniform abgebildet. „Das war während meiner Lehre bei der Post“, erzählt Elfriede Günther. „Auf dem Foto muss ich 17 oder 18 Jahre alt sein. Heute ist Frau Günther 88 und 70 Jahre älter. Ihr Mann Willi ist vor 20 Jahren gestorben, das Paar hatte keine Kinder. „Ich bin hier gut aufgehoben“, sagt sie.
Wenn man Lotte Gallasch fragt, wovor sie am meisten Angst hat, dann sagt die 94- jährige: „Vor dem Älterwerden.“ Ihr Humor begleitet die Ur- Selberin schon durch ihr ganzes langes Leben. Gerne erzählt sie die Geschichte von einer Halskette, die sie als Kind unbedingt haben wollte, um sie zum Wiesenfest zu tragen. „Jeden Tag führte mein Weg an der Auslage im Schaufenster vorbei. Nach langer Bettelei bei meinen Eltern habe ich eine Mark bekommen, mit der ich mir die Kette kaufen konnte. Da war die Freude groß!“ Lotte Gallasch erzählt, wie man ihr das Schmuckstück im Laden gleich angelegt hat, sie stolz nach Hause lief um sich dort bewundern zu lassen. Doch die Freude währte nicht lange. Bei einem Besuch auf dem heimischen Plumpsklo landete das geliebte Stück in dunkler und übelriechender Tiefe. „Die Tränen waren schlimm, die Kette werde ich nie vergessen“, erzählt Lotte Gallasch wehmütig und schmunzelnd zugleich. Doch sei es nicht immer nur lustig zugegangen in ihrem Leben. Im Krieg hatte man sie als Vermittlerin auf dem Prager Flughafen eingesetzt. Großes Heimweh habe sie gehabt und viel geweint. Ihren Mann Wenzel hat sie 1946 geheiratet. Der war Soldat und Bordmechaniker bei der Luftwaffe. Kennengelernt hat sie ihn aber schon als Kind. Beim Völkerball- Spielen. „Wir haben in der `Blockhütte´ eine tolle Hochzeit gefeiert“, erinnert sie sich. Auch wenn die Zeiten oft nicht leicht waren, hat sich Lotte Gallasch ihren Humor bewahrt. Möglicherweise ist das ein Erfolgsrezept für ihr hohes Alter und ihre geistige Fitness.
Wenn Franz Sylvester zurückblickt, ist für ihn klar: „Ich hatte ein erfülltes Leben.“ Angefangen hat dieses für den gebürtigen Oberschlesier allerdings wenig erfreulich. Im Januar 1943 wurde er in den Krieg einberufen. In Stettin sollte er seine Rekrutenzeit ableisten, jedoch sollte sein Weg ein anderer, viel längerer werden. Von Westpommern zog der junge Soldat nach Belgien, weiter über Nord- und Südfrankreich nach Weißrussland. Dort war er bis 1944 stationiert, ehe er im Herbst wieder zurück nach Frankreich beordert wurde, „wo ich in den Ardennen die letzten Angriffe miterleben musste und nur mit viel Glück als Neunzehnjähriger aus dem Krieg zurückkehrte.“ Allerdings sollte er noch zweieinhalb Jahre amerikanische Gefangenschaft aushalten müssen, ehe er bei einem Onkel in Schwarzenhammer unterkam; „ohne Brot und Arbeit“, wie er sagt. Zuerst landwirtschaftlich tätig, machte Franz Sylvester eine Umschulung zum Maurer, wurde Polier. 1951 hat er seine Gertrud geheiratet, mit der er 1959 in Erkersreuth ein Haus gebaut hat. Sie ist es auch, die er auf dem Hochzeitsfoto von damals in den Händen hält. Sie hatten eine tolle Zeit in ihrem gemeinsamen Zuhause. Vor sieben Jahren ist Gertrud verstorben, Franz Sylvester hat im Jahr darauf das Haus verkauft. Eine Krankheitsgeschichte nahm er zum Anlass, ins Heim zu gehen. „Mir geht es hier sehr gut“, sagt der 89- jährige. Ein bisschen Schwermut schwingt allerdings doch mit, wenn er von den alten Zeiten erzählt.